EuGH erlaubt Urlaubskürzung bei Elternzeit
11.04.2019. Die EU-Staaten dürfen Elternzeiten bei der Berechnung des Erholungsurlaubs ausklammern: Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 04.10.2018, C-12/17 (Maria Dicu)
Wer längere Zeit nicht bei der Arbeit ist und kein Gehalt bezieht, kann trotzdem fortlaufend (weitere) Urlaubsansprüche ansammeln. Ein bekanntes Beispiel ist die längere krankheitsbedingte Abwesenheit eines Arbeitnehmers, die nicht dazu führen darf, dass die Ansprüche auf den Jahresurlaub am Ende des Kalenderjahres oder am 31. März des Folgejahres verfallen, weil der Arbeitnehmer krankheitsbedingt nicht in der Lage war, den Urlaub anzutreten.
Aber muss dieser arbeitsrechtliche Schutz aus Gründen des Europarechts auch für den Fall gelten, dass ein Arbeitnehmer oder eine Arbeitnehmerin aufgrund einer Elternzeit vorübergehend nicht im aktiven Arbeitsverhältnis steht? Diese Frage hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit einem Urteil vom gestrigen Tage mit nein beantwortet: EuGH, Urteil vom 04.10.2018, C-12/17 (Maria Dicu).
- Garantiert das Europarecht Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern während einer Elternzeit, dass sie fortlaufend Urlaubsansprüche erwerben?
- Der rumänische Streitfall: Eine Richterin am Landgericht Botoșani streitet mit ihrem Dienstherrn über fünf Tage Urlaub, der ihr wegen einer 7,5-monatigen Elternzeit verweigert wird
- EuGH: Das Europarecht verbietet den EU-Staaten nicht, bei der Festlegung des jährlichen Erholungsurlaubs Zeiten eines Elternurlaubs anspruchsmindernd zu berücksichtigen
Garantiert das Europarecht Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern während einer Elternzeit, dass sie fortlaufend Urlaubsansprüche erwerben?
Nach deutschem Arbeitsrecht führt eine Elternzeit nicht automatisch zu einer Kürzung von Urlaubsansprüchen. Das gilt auch dann, wenn Arbeitnehmer gar nicht tätig sind, sich also gegen eine Teilzeit in der Elternzeit entschieden haben. Das folgt aus § 17 Abs.1 Satz 1 Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (BEEG). Diese Vorschrift lautet:
"Der Arbeitgeber kann den Erholungsurlaub, der dem Arbeitnehmer oder der Arbeitnehmerin für das Urlaubsjahr zusteht, für jeden vollen Kalendermonat der Elternzeit um ein Zwölftel kürzen. Dies gilt nicht, wenn der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin während der Elternzeit bei seinem oder ihrem Arbeitgeber Teilzeitarbeit leistet."
Die hier geregelte Möglichkeit des Arbeitgebers, durch eine ausdrücklich erklärte Kürzung die Urlaubsansprüche zeitanteilig für volle Elternzeitmonate zu verringern, bedeutet im Umkehrschluss, dass Arbeitnehmer während einer Elternzeit im Prinzip zusätzlichen Urlaub erwerben.
Anders gesagt: Im Allgemeinen entstehen Urlaubsansprüche auch für die Dauer einer Elternzeit (= Regel), doch kann der Arbeitgeber diese gesetzliche Rechtsfolge durch eine Kürzungserklärung verhindern (= Ausnahme). In der Praxis des Arbeitslebens ist dieses Regel-Ausnahmeverhältnis aber umgekehrt: In den meisten Fällen möchte der Arbeitgeber Arbeitnehmern während einer Elternzeit keine zusätzlichen Urlaubstage zugestehen, so dass er mit der Bestätigung der Elternzeit zugleich eine Kürzungserklärung ausspricht. Ein entsprechendes Musterschreiben des Arbeitgebers finden Sie hier (Musterschreiben: Bestätigung der Elternzeit mit Kürzung des Urlaubs).
Die Kürzung muss der Arbeitgeber nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) noch während des bestehenden Arbeitsverhältnisses erklären. Nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses besteht diese Möglichkeit nicht mehr, denn dann würde sie sich nicht mehr gegen den Urlaubsanspruch bzw. gegen dessen Höhe richten, sondern gegen den Anspruch auf Urlaubsabgeltung. Gegen den Abgeltungsanspruch sieht § 17 Abs.1 Satz 1 BEEG aber keine Kürzungsmöglichkeit vor (BAG, Urteil vom 19.05.2015, 9 AZR 725/13, wir berichteten in Arbeitsrecht aktuell: 15/133 Urlaubsanspruch und Elternzeit).
In den letzten Jahren war allerdings unklar und daher umstritten, ob die Kürzungsmöglichkeit nicht vielleicht gegen Art.7 Abs.1 der Richtlinie 2003/88 ("Arbeitszeit-Richtlinie") verstößt, d.h. gegen die Garantie eines vierwöchigen Mindesturlaubs. Diese Regelung lautet:
"Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind."
In dieser Vorschrift wird nicht zwischen "normalen" Arbeitnehmern (die regulär zur Arbeit gehen) und anderen unterschieden, deren Arbeitsverhältnis infolge einer Elternzeit vorübergehend auf Eis gelegt ist. Und in Bezug auf langfristig erkrankte Arbeitnehmer hat der EuGH in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass Urlaubsansprüche zumindest für 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres, für welches sie entstanden sind, zugunsten des Arbeitnehmers aufrecht erhalten werden müssen. Einzelheiten dazu finden Sie auf dieser Webseite unter "Handbuch Arbeitsrecht: Urlaub und Krankheit".
Eine ähnliche, ebenfalls arbeitnehmerfreundliche Klarstellung hat der Gerichtshof für Arbeitnehmerinnen getroffen, die sich in den gesetzlichen Mutterschutzfristen befinden. Sie haben einen Anspruch darauf, dass der Arbeitgeber die Mutterschutzfristen nicht als Erholungsurlaub verbucht, d.h. die Inanspruchnahme der Schutzfristen darf keine Urlaubsansprüche verbrauchen (EuGH, Urteil vom 18.03.2004, C-342/01 - Merino Gómez).
Auf der anderen Seite hat der EuGH vor einigen Jahren zu Ungunsten der Arbeitnehmerseite entschieden, dass es mit dem Europarecht zu vereinbaren ist, wenn Arbeitnehmer für die Zeit einer "Kurzarbeit Null" keine zusätzlichen Urlaubsansprüche erwerben (EuGH, Urteil vom 08.11.2012, C-229/11 und C-230/11 - Heimann und Toltschin), wir berichteten in Arbeitsrecht aktuell: 12/353 Kein Urlaub bei Kurzarbeit Null). Auch in einem solchen Fall ist das Arbeitsverhältnis vorübergehend "auf Eis gelegt", ähnlich wie bei einer Elternzeit.
Vor diesem Hintergrund war längere Zeit nicht klar, ob gemäß dem Europarecht während einer Elternzeit Urlaubsansprüche entstehen müssen. Diese Frage hat der Gerichtshof nunmehr beantwortet, und zwar im Sinne der Arbeitgeberseite.
Der rumänische Streitfall: Eine Richterin am Landgericht Botoșani streitet mit ihrem Dienstherrn über fünf Tage Urlaub, der ihr wegen einer 7,5-monatigen Elternzeit verweigert wird
Eine rumänische Richterin am Tribunalul Botoșani (Landgericht Botoșani), Frau Maria Dicu, nahm im Kalenderjahr 2014 ihren regulären Jahresurlaub von 35 Tagen und befand sich danach, vom 01.10.2014 bis zum 03.02.2015, im gesetzlichen Mutterschutz.
Im Anschluss daran nahm sie 7,5 Monate Elternurlaub (04.02.2015 bis 16.09.2015). Ähnlich wie nach deutschem Recht war ihr Arbeitsverhältnis während dieser Zeit ausgesetzt. Nach Beendigung ihres Elternurlaubs kam sie nicht sofort wieder zur Arbeit, sondern nahm 30 Tage regulären Urlaub (17.09.2015 bis 17.10.2015).
Der Dienstherr lehnte daraufhin einen weiteren Urlaubsantrag ab, mit dem Frau Dicu nochmals fünf Urlaubstage für 2015 in Anspruch nehmen wollte, und zwar zwischen den Feiertagen am Jahresende 2015. Aus Sicht des Dienstherrn hatte sie in 2015 bereits zu viel Urlaub erhalten, denn der Urlaubsanspruch hängt nach rumänischem Recht von der Zeit der tatsächlichen Arbeitsleistung im laufenden Jahr ab. Dementsprechend war der Urlaubsanspruch für 2015 aufgrund des 7,5-monatigen Elternurlaubs zeitanteilig gemindert, so jedenfalls der Dienstherr.
Frau Dicu erhob daraufhin Klage mit dem Ziel der Feststellung, dass bei der Berechnung ihres Jahresurlaubs 2015 der Elternurlaub als Zeitraum tatsächlicher Arbeitsleistung anzusehen sei. Mit dieser Klage hatte sie in der ersten Instanz Erfolg. Dagegen setzte das Berufungsgericht das Verfahren aus und legte dem EuGH die Frage vor, ob Art.7 Abs.1 der Richtlinie 2003/88 (bzw. der damit garantierte vierwöchige Mindesturlaub) einer nationalen Regelung entgegensteht, der zufolge Zeiten eines Elternurlaubs die Dauer des Erholungsurlaubs verringern.
EuGH: Das Europarecht verbietet den EU-Staaten nicht, bei der Festlegung des jährlichen Erholungsurlaubs Zeiten eines Elternurlaubs anspruchsmindernd zu berücksichtigen
Der Gerichtshof entschied die Vorlagefrage im Sinne des Dienstherrn bzw. entgegen der Ansicht der klagenden Richterin. Damit folgt der EuGH dem Entscheidungsvorschlag des am Verfahren beteiligten EuGH-Generalanwalts Mengozzi (Schlussanträge des Generalanwalts Paolo Mengozzi, vom 20.03.2018, Rs. C-12/17).
Zur Begründung weist der EuGH darauf hin, dass sich der Elternurlaub von krankheitsbedingten Fehlzeiten und von den Mutterschutzfristen unterscheidet. Das bedeutet: Auch wenn länger erkrankte Arbeitnehmer während ihrer Fehlzeiten und Arbeitnehmerinnen während der Schutzfristen nach der EuGH-Rechtsprechung laufend weitere Urlaubsansprüche erwerben, ist dieser Schutz nicht auf Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen während eines Elternurlaubs zu übertragen.
Denn Krankheiten sind nicht vorhersehbar und mit physischen oder psychischen Beschwerden verbunden, während das für Elternurlaube nicht gilt. Sie können geplant werden und entsprechen in den meisten Fällen dem Wunsch des Arbeitnehmers, sich um sein Kind zu kümmern (EuGH, Urteil vom 04.10.2018, C-12/17, Rn.32 und 33).
Darüber hinaus bestehen auch erhebliche Unterschiede zwischen dem Elternurlaub und den Mutterschutzfristen, die "dem Schutz der körperlichen Verfassung der Frau während und nach ihrer Schwangerschaft" dienen sowie "dem Schutz der besonderen Beziehung zwischen der Mutter und ihrem Kind während der an Schwangerschaft und Entbindung anschließenden Zeit" (EuGH, Urteil vom 04.10.2018, C-12/17, Rn.34). Diese Zwecke stehen aber nach Ansicht der Luxemburger Richter nicht hinter den Vorschriften über den Elternurlaub, der dementsprechend nicht nur von Müttern, sondern auch von Vätern in Anspruch genommen werden kann.
Fazit: Das EuGH-Urteil vom 04.10.2018 (C-12/17 - Maria Dicu) ist zwar auf einen rumänischen Fall gemünzt, kann aber auf die deutsche Regelung in § 17 Abs.1 Satz 1 BEEG übertragen werden. Denn wenn der Arbeitgeber von seinem Kürzungsrecht Gebrauch macht, befindet sich die Arbeitnehmerin bzw. der Arbeitnehmer in einer vergleichbaren Lage wie die rumänische Klägerin. Daraus folgt, dass die in § 17 Abs.1 Satz 1 BEEG vorgesehene Kürzungsmöglichkeit mit dem Europarecht vereinbar ist.